HANS MEMLING (um 1435 Seligenstadt am Main – 1494 Brügge)
"Weltgerichtsaltar" um 1467-73, Danzig,
Öl und Tempera auf Holz, Mitteltafel 220 x 161 cm, Flügel je 223,5 x 72,5 cm, Danzig, Nationalmuseum

Der Weltgerichtsaltar Hans Memlings aus der Danziger Marienkirche ist nicht zuletzt aufgrund seiner bewegten Geschichte eines der bekanntesten und populärsten Werke der altniederländischen Malerei.

In geöffnetem Zustand ist das Weltgericht als durchgehende, die beiden Seitenflügel und die Mitteltafel umfassende Komposition zu sehen. Das Mittelbild zeigt die traditionelle Darstellung des Jüngsten Gerichts, geteilt in eine himmlische und irdische Zone. Oben thront in der Bildmitte Christus als Weltenrichter, von konzentrischen Kreisen einer goldenen Glorie umgeben, auf einem Regenbogen, flankiert von den zwölf Aposteln. Links und rechts knieen Maria und Johannes der Täufer und bilden damit die bis auf die byzantinische Kunst zurückgehende Fürbittgruppe. Vier Engel mit den Passionswerkzeugen schweben vor der Himmelsglorie, unter dem Wolkensaum verkünden drei Engel mit Posaunen das Jüngste Gericht, der vierte Posaunenengel erscheint am oberen Rand des rechten Flügels mit den Verdammten und deutet damit den in die Tiefe reichenden Abgrund der Hölle an.

In schimmerndem Harnisch die auferstehenden Menschen an Größe weit überragend, wägt der Erzengel Michael die Auferstandenen und stößt mit einem Kreuzstab den zu leicht Befundenen von der sich hebenden Waagschale, während sich die Schale mit dem frommen Beter senkt. Die Scharen der nackten Auferstandenen sind schon weitgehend in Selige und Sünder geschieden, die Seligen wandern nach links, während die Verdammten von Dämonen in die Hölle getrieben werden, im Hintergrund kämpft ein Engel mit einem Teufel um einen Auferstandenen.

Der linke Flügel zeigt die Aufnahme der Seligen im Himmlischen Jerusalem. Eine gotische Portalarchitektur, zu der eine Kristalltreppe führt ist auf Wolken an die Erde herangeschwebt. Petrus, im traditionellen Volksglauben der Türhüter des Paradieses, heißt die Seligen willkommen, Engel bekleiden sie und geleiten sie in die mit musizierenden und jubelnden Engeln besetzte Stadt. Der rechte Flügel stellt den felsigen Abgrund der brennenden Hölle dar; die Verdammten werden von schwarzen Dämonen, teuflischen Mischwesen, halb Mensch, halb Tier, mit glühenden Spießen, Haken und Gabeln kopfüber, mit verrenkten Gliedern und dem Ausdruck größter Angst und äußersten Grauens in die Flammen gestürzt. Die Darstellung der Flammen, die dadurch erzeugten Hell-Dunkel-Effekte und der Widerschein des Feuers an den Felsen und den Körpern der Verdammten bilden den von der malerischen Durchführung modernsten Teil des Bildes.

Die Außenseiten der Flügel kombinieren in origineller Weise das in der altniederländischen Malerei für Außenflügel traditionelle ikonographische Schema der als Steinskulpturen gemalte Heiligen mit der Darstellung der Stifter Angelo Tani (1415 – 1492) und seiner Gemahlin Caterina Tani, die schon seit langem an Hand ihrer Wappen identifiziert werden konnten. Der Florentiner Tani führte von 1455 bis 65 die Niederlassung der Medicibank in Brügge, kehrte dann nach Florenz zurück und heiratete 1466 Caterina di Francesco Tanagli (1446 – 1492). Im darauffolgenden Jahr wurde Tani nach London geschickt, um die dortige Filiale der Bank vor dem drohenden Bankrott zu retten. Wir wissen, daß der Altar von Angelo Tani für die Michaelskapelle der Badia Fiesolana in Florenz, eine 1466 fertiggestellte Gründung von Cosimo de’Medici in Auftrag gegeben worden war. Als Entstehungsdatum des Altars wird zumeist 1467 angenommen, dieses Datum findet sich auf dem Grabstein vorne neben dem Hl. Michael, 1473 war der Altar jedenfalls vollendet und wurde von Brügge aus mit dem Bestimmungsort Florenz verschifft.

Der weitere abenteuerliche Weg des Altars, ist bis ins Detail bekannt und oftmals erzählt worden. Als Folge des Seekriegs zwischen der deutschen Hanse und England wurde das unter burgundischer Flagge segelnde und von Tommaso Portinari, dem Nachfolger Tanis in Brügge, finanzierte Schiff, obwohl neutral, am 14. April 1473 von dem in Danziger Diensten stehenden Paul Benecke vor England gekapert, die Beute, unter der sich ein zweiter, verschollener niederländischer Altar befand, aufgeteilt und der Weltgerichtsaltar für die Frauenkirche in Danzig gestiftet. Trotz Intervention des burgundischen Herzogs und des Papstes Sixtus IV. wurde die Beute nicht zurückgegeben, die Stadt Brügge leistete schließlich Tommaso Portinari eine Schadenersatzzahlung.

Bei dem Weltgerichtsaltar handelt sich um eines der frühesten, und zugleich größten und monumentalsten Werke von Hans Memling, der aus Seligenstadt am Main stammte und seit 1465 dokumentarisch als Bürger von Brügge nachweisbar ist. Er gründete hier eine bald vielbeschäftigte Werkstatt, besaß ein großes Haus und zählte seiner Steuerleistung nach zu den wohlhabenden Bügern der Stadt. In den dreißig Jahren seiner Tätigkeit in Brügge entwickelte er sich zum führenden Maler seiner Wahlheimat. Bis heute ist eine große Zahl seiner Werken erhalten, mit dem Memlingmuseum im St. Jans Hospital in Brügge, für das der Künstler vier Meisterwerke, Altäre und einen Schrein für die Reliquien der hl. Ursula, geschaffen hatte,ist ihm ein eigenes Museum gewidmet.

Mit der Wiederentdeckung der altniederländischen Malerei durch die deutsche Romantik, vor allem durch Friedrich Schlegel, der an Hans Memling die Tiefe der religiösen Empfindung schätzte, wurde er zum altniederländischen Maler schlechthin, dessen stille, elegische Malerei den Geist der alten burgundischen Niederlande am vollkommensten auszudrücken schien. Den Kritikern des frühen 20. Jahrhunderts, deren Geschmack von der modernen expressionistischen Malerei geprägt war, erschien Memling hingegen als der epigonale Künstler schlechthin. Dieses Urteil wirkte lange nach, noch Panofsky, der große deutsch-amerikanische Kunsthistoriker bezeichnete in seinem großen Werk über die altniederländische Malerei (1953) Memling boshaft als the very model of a major minor master und verglich ihn mit Felix Mendelssohn-Bartholdy, der ebenso occasionally enchants, never offends, and never overwhelms. Heute läßt man Hans Memling wieder mehr Gerechtigkeit widerfahren und sieht vor allem seine Begabung als Kolorist und großer Porträtmaler, wie auch die Stifterbildnisse des Danziger Altars beweisen.

Karl Schütz